„Fingerabfuhrschmiss in Mülheim – Baderei in Kalk“ Im zarten Alter von 35 Jahren erlitt ich also meinen ersten
Arbeitsunfall. Beim dilettantisch vorgetragenen Versuch, vier Kaffeetassen am
Ende des Arbeitstages in die Kaffeeküche zu stellen, durfte ich die
Wahrhaftigkeit des Vorhandenseins des Prekariats festellen. Oder anders: Ein
bis auf den Knochen aufgeschlitzter Mittelfinger zeigte mir: Ja, es gibt eine
Unterschicht. Und diese definiert sich nicht über Unbildung, RTL-II-gucken,
fehlende monetäre Mittel, nee es sind einfach brachiale Kernasis! Ich trug vier Kaffeetassen in einer Hand, bei
einer war der Henkel schon leicht angeknackst, kurz vor der Landung auf dem
Tablett, merke ich, wie ein Henkel nachgibt und die Grätsche macht, zwei
Tassen wirbeln durch die Luft, ich versuche umzugreifen und Sie mit rechts
aufzufangen, untauglicher Versuch, zwei sterben zugleich am Boden, die
Verursachertasse zerschellt ebenfalls, nur am kleinen Finger baumelt der
einzige Überlebende. Ich verfluche die Welt, denke „Mist! Jetzt kannst Du
noch den ganzen Dreck wegmachen“, spüre einen leichten Schmerz am
Mittelfinger, gucke, ein leichter
roter Striemen. Als guter Verbindungsstudent weiss ich aber, dass das NICHTS
zu bedeuten hat. Ich beuge leicht das Fingergelenk und mir ist direkt klar,
dass ich da professionelle Kräfte draufgucken lassen muss und weder mit ´nem
Zauberpflästerchen noch mit ´nem „Läppche’ drum“ irgendetwas zu holen ist:
Zwei Zentimeter Schmiss längst, der sofort aufklafft und der Knochen ist zu
sehen – die abspritzenden Henkel haben die ungute Angewohnheit, das immer
noch was von der Lasur dran bleibt und dann zur Rasiermesserschärfe mutiert.
Da schneidet man sich als Dr. Ungeschickt auch mal gerne den Finger auf. Eine Kollegin kommt vorbei, ich bitte Sie,
keine Fragen zu stellen und sage :“Guck’ mal am Empfang im
Erste-Hilfe-Kasten, ob da ein steriles Tuch drin ist, schneid’ das mal
zurecht und dann auf den Finger und danach verbinden. Ich habe mir in den
Finger geschnitten, keine Details, ist aber bis auf den Knochen und ich werde
- glaube ich mal - den ärztlichen Notdienst zu Kalk besuchen“. Wie ein Roboter, obwohl sie kein Blut sehen kann,
führt sie die Erstversorgung durch und ich fahre nach Kalk, gebe kurz zu
Hause kund, dass ich der Dümmste bin und einen unerquicklichen Arbeitsunfall
mit Kaffeetassen hatte, ein absurdes Unterbeweisstellen meiner Hektik und nun
professionelle Kräfte im Evangelischen Krankenhaus zu Köln-Kalk drauf schauen
lasse. Und dann lernte ich das pralle Leben und das
Vorhandensein von Schichten in der Bundesrepubik kennen. Im Zeitportfolio
hatte ich, ich der ich mich arbeitgeberfreundlich um 18.30 Uhr am Ende des
Arbeitstages vor einem Feiertag verletzt hatte, so auf zwei-bis zweieinhalb
Stunden Aufenthalt in diesem wunderbaren Interieur eingestellt. Neben mir
eine Vollspritbirne mit einem verschobenen Unterarmbruch – dislozierte
subcapitale Humerusfraktur – Ursache „Alkoholabusus“ - (wie ich später,
während einer Mussephase, als ich die ganzen Befunde scannte, da der
freundliche diensthabende Arzt meinen „Aufnahmezettel ausfüllte), dann zwei
Jungens, die über recht bodenständige Konfliktlösungsmechanismen verfügen und
ihre gegenseitig eingeschlagenen Nasen behandeln lassen wollen, und eine
Madame, die aussieht wie Marylin Manson in bleich – die Einstichnarben am
Hals unterstrichen, dass es sich nicht um eine Theologiestudentin mit einem
bösen Strickunfall handelte... Der Pfleger sieht mich, sagt ohne weiteres Aufheben
oder Anamnese „Oh, oh, das kann lange dauern“, dann, ja dann erst fragt er
mich, was los sei. Ich erkläre in der gängigen bundesrepublikanischen
Verkehrssprache, dass ich ziemlich dämlich sei und mir an nem defekten
Kaffeetassenhenkel den Finger aufgeschlitzt habe, es sich quasi um einen
„Arbeitsunfall“ handelt (bei diesem Wort zucken des Pflegers Wundwinkel – es
fehlte nur noch, dass irgendwo ein rotes Martinshorn losgeht und den ersten
Arbeitsunfall sei den frühen Fünfzigern annonciert) und ich werde – da
offentsichlich nicht unter Rauschmitteln stehend und ohne Einstichnarben am
Armen und Hals, nein sogar noch meine BEK-Karte zückend und damit wedelnd,
recht zeitnah in das Behandlungszimmer gebeten. Kurzer Dialog mit dem
diensthabenden Arzt, er reinigt die Wunde, sagt, das neue Zeug, das er
draufgibt sollte nicht allzu sehr brennen, könnte aber, ich spüre nichts,
nehme erfreut zur Kenntnis, dass es weder Sehnen noch Nerven erwischt hat
(„Spüren Sie das? Drücken sie mal dagegen! Beugen Sie mal bitte“), weigert
sich den Finger ohne Betäubung zu nähen („Nee, das mache ich nur mit
Betäubung und das dauert dann noch länger, es reicht, wenn ich es verklebe“) Draussen hat sich immer noch niemand von seinen
Ketten befreit. Und man wartet angsterfüllt auf die Entfremdung vom
Gerichtsfernsehen. Leben mit Hartz IV und fernsehengucken und Kinder
aufziehen, die Chantal und Kevin-Maurice heissen. Drei Generationen am Tropf
des Staates. Ich bezahle meine 10 Euro in bar, entschuldige mich dafür, dass
ich es nicht passend habe und jovialisiere rum „Tut mir leid, dass ich es
nicht passend habe, aber ich hatte mit dem Fingerding nicht gerechnet“, „Kein
Problem, ich bin ja froh, dass Sie überhaupt bezahlen, kommt hier nicht allzu
oft vor“. P.S.: Natürlich bediene ich ein paar Klischees
– aber es war zu 96 Prozent so wie von mir geschildert ;-)) Köln, den 14. November 2006,
Heiko Schomberg |